Rezension Oper als Kunst der Einfühlung
Posted on 23. September 2015 in Allgemein — Share this via
Rezension „Oper als Kunst der Einfühlung“ (Wozu die Oper.de)
und „Der Opernfreund“
Oper als Kunst der Einfühlung in den anderen
Opernregie oder Die Suche nach dem Heiligen Gral: Nina Kupczyk gibt aufschlussreiche Einblicke in die Denkweisen etablierter Musiktheaterregisseure – und entwickelt ein psychologisch fundiertes Konzept einer Inszenierungspraxis, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Geeignet ist ihre Abhandlung „Die Kunst der Empathie“ dabei nicht nur für Operninteressierte – auch Manager, Konfliktlotsen und Kommunikationsexperten finden hier das Rüstzeug für ihre Art „Regiearbeit“ in kompaktester Form.
Die Autorin und Opernregisseurin nimmt nicht zuletzt auch dadurch für sich ein, dass sie sich stellenweise einer wunderbar spitzbübischen Metaphorik bedient, die die Spezifizierung von „Regie“ mit der Suche nach dem Heiligen Gral, Regisseure und Dramaturgen als „Gralshüter“, deren Erfolg und Marktwert als „Gralsgeheimnis“ und den Versuch einer Begriffsklärung mit Elsas Frageverbot in „Lohengrin“ gleichsetzt.
Denn es gibt keine eindeutige Definition dessen, was „Regie“ tatsächlich bedeutet. Auch renommierte Kollegen können mit einer Beschreibung, die ihr Tun auf den Punkt bringt, nicht aufwarten: Kupczyk führt unter anderem Äußerungen von „Regiegöttern“ wie Everding, Neuenfels und Konwitschny ins Feld – die sich jedoch nicht wirklich dingfest machen lassen.
Und damit stehen die Opernmacher der Neuzeit nicht allein: Das, was unter „Regieführen“ zu verstehen ist, war ohnehin im Laufe der (Musik-)Theatergeschichte vielfachem Wandel unterzogen, wie Kupczyk in einem kurzen Abriss von der Antike bis zur Gegenwart erläutert. Dabei entzaubert sie das Regietheater, das vielfach als Gipfel der Fortschrittlichkeit begriffen wird, als bloße Wiederholung dessen, was sich unter dem Begriff „Regie“ schon im neunzehnten Jahrhundert etabliert hatte: „Bereits vorhandene Werke zu rekonstruieren oder zu interpretieren, die Szenen neu zu gestalten und die Darsteller ihrer Idee (der Regisseure, Anm. d. Verf.) anzupassen“.
Der Regisseur als „Schöpfer, Mutter, Vater“ – und Manager
Die Grundhaltung des Regisseurs einer Operninszenierung sei oftmals nicht wirkliche Offenheit für das genuin Neue, bedauert Kupczyk in diesem Zusammenhang, sondern der bloße Wunsch, ein Werk „anders“ oder „einmaliger“ „zu machen“. Diesem vermeintlich „modernen“ Regieansatz stellt sie ihre (erfrischend kühne) Hypothese entgegen, „… dass einzig der Fortschritt des Theaters heute nicht mehr in der Entwicklung neuer ästhetischer Standpunkte zu suchen ist, sondern in der Arbeit mit den Menschen, den Darstellern.“
Daran anknüpfend entwickelt die Autorin, die sowohl in der Theaterwissenschaft als auch auf dem Gebiet der Psychologie zu Hause ist, ein Konzept, wie diese am Menschen orientierte Arbeit in der Praxis aussehen könnte: Die „Kunst der Empathie“ besteht in der während der Regiearbeit kontinuierlich zu leistenden Einfühlung in die Emotionalität der Akteure – wobei es jedoch ebenso gilt, die eigene Perspektive nicht aufzugeben.
Das, was Kupczyk hier tiefenpsychologisch fundiert beschreibt, entspricht in der Summe den von Carl Rogers postulierten drei Grundhaltungen der humanistischen Psychologie: wertschätzende Akzeptanz des Gegenübers, Empathie mit dem Gegenüber und Wahrung (wenn nicht gar Entwicklung) der eigenen Authentizität. Die vier Grundformen der menschlichen Persönlichkeit wiederum, die Kupczyk anhand der von der Psychologin Mary Ainsworth entwickelten Bindungstheorie vorstellt, haben ihr humanistisches Pendant in den vier von Fritz Riemann entwickelten Typisierungen (Nähe, Distanz, Dauer, Wechsel). Auch der situative Kontext ist von der Autorin bedacht – der im Wort Regie implizierte Begriff „Führung“ wird hier, zu Recht, als Rolle im Sinne einer Management-Aufgabe verstanden. Denn der Opernregisseur ist nicht nur (tiefenpsychologisch deutbarer) „Schöpfer, Mutter, Vater“, sondern auch „Betroffener“ innerhalb einer Interaktionsstruktur. Als solcher benötigt er Kenntnisse über Führungsstil und Macht, Kommunikation und Krisenintervention.
Nina Kupczyk belässt es dabei nicht bei trockener Theorie: Ihr Buch gibt auch Einblick in die praktische Umsetzung ihres Konzepts. Erfahrungsberichte aus ihrer Probenarbeit zeigen, dass die vier verschiedenen Persönlichkeitsstile, mit denen die Regisseurin in ihrer Zusammenarbeit mit Sängern und Schauspielern konfrontiert ist, keinesfalls Konstrukte, sondern höchst lebendige Formen des Menschseins sind.
Einfühlungs-Kunst für die Darsteller – und Zuschauer
„Regie und Regieführen sind eine Kunst. Eine Kunst der Interaktion mit Menschen“ – das ist sowohl Definition als auch Fazit dieses bemerkenswerten Buchs. Für dessen Autorin steht im Zentrum „immer der Mensch in der jeweiligen Situation und mit seiner Persönlichkeit. Sie allein sind Orientierung für das Theater der Zukunft: ein Theater der Menschen.“
Wie sehr sich Nina Kupczyk auf die „Kunst der Empathie“ versteht, wie einfühlsam sie die Darsteller in ihre Rollen zu geleiten und sie zu Außergewöhnlichem anzuleiten vermag, zeigte unter anderem ihre Inszenierung von „Così fan tutte“ am Opernloft in Hamburg. Bei aller Bewunderung für die geradezu erschreckende Perfektion der Akteure schien dem Zuschauer zugleich auf, welch überzogenen Ansprüchen junge Menschen in der heutigen Zeit ausgesetzt sind: Nur, indem sie sich übermäßig perfektionieren und flexibel, mithin austauschbar machen, können sie sich im Arbeits- und Liebesleben behaupten. Diese Aussage steht durchaus im Einklang mit dem Libretto. In Nina Kupczyks „Così fan tutte“ geht sie dem Zuschauer, aufgrund seiner Anteilnahme an der Situation der Protagonisten, tatsächlich nahe. Durch die vermeintlich „unterhaltsame“ Komödie hindurch wird das existenzielle Drama, das jeden Einzelnen betrifft oder betreffen kann, für ihn erlebbar.
Obwohl die Autorin und Regisseurin es an keiner Stelle explizit ausspricht, besteht genau hierin die entscheidende Konsequenz ihrer Auffassung und Umsetzung des Begriffs „Regie“, ihrer Konzeption des Musiktheaters (wie es offenbar auch von Philipp Himmelmann, Johannes Erath, Karoline Gruber, Jetske Mijnssen oder Vincent Boussard aufgefasst wird): Ein Regisseur, der sich auf diese Art Kunst versteht, beflügelt, quasi als Resonanz seiner inneren Haltung, nicht nur die Empathie seiner Darsteller – sondern auch die des Zuschauers.
So verstandenes Musiktheater setzt nicht auf Konfrontation oder Provokation, sondern fokussiert auf das innere Erleben der Protagonisten des Werks und findet Bilder für deren seelische Verfasstheit. Intensiver noch als es das Sprechtheater oder der Roman vermögen, lässt es den Zuschauer das Geschehen aus der Perspektive des anderen erleben. Die dadurch buchstäblich vollzogene Veränderung seines Standpunkts (sowohl emotional als auch rational) hat nicht nur Auswirkung auf den Einzelnen, sondern in der Summe auf die ganze Gesellschaft – hin zu mehr Offenheit, Akzeptanz und Wertschätzung. Also hin zu einer Gesellschaft, wie sie die Vertreter der humanistischen Psychologie – aber auch der lebenskluge Poet Ringelnatz, dessen Aufforderung „Vom andern aus lerne die Welt begreifen“ als Maxime einer „Kunst der Empathie“ gelten kann – schon vor Jahrzehnten erhofften. Sie ist notwendiger denn je.
Christa Habicht, 23. September 2015
Nina Kupczyks „Così fan tutte“: Spaßiger Liebesreigen mit ernster Bedeutung
Nina Kupczyk: Die Kunst der Empathie. Eine unendliche Geschichte von Regie, Bindung und Führungsstil. Akademiker Verlag, Saarbrücken 2015, 127 Seiten